Unser Erbrecht ist mehr als ein Jahrhundert alt. Im 2023 wird es revidiert. Mit der Revision erhalten die Erblassenden dank dem tieferen Pflichtteil und der höheren freien Quote mehr Spielraum und können freier über ihr Vermögen verfügen.
Die ersten überlieferten Schriftstücke, die in der Schweiz das Erbrecht regeln, gehen auf das 12. Jahrhundert zurück. Bis 1912, als das Zivilgesetzbuch eingeführt wurde, gab es kein schweizweit geltendes Erbrecht. In den letzten 110 Jahren haben sich die Beziehungs- und Familienformen stark verändert. Mit der ersten Etappe der Revision wird das Erbrecht neuen Lebensentwürfen wie Patchwork-Familien angepasst. Das revidierte Erbrecht gilt für alle Todesfälle ab dem 1. Januar 2023.
Mehr Spielraum für Erblassende
Der Pflichtteil sichert nächsten Angehörigen wie direkten Nachkommen oder überlebenden Ehegatten einen Mindestanteil am Erbe zu, unabhängig vom Willen des oder der Verstorbenen. Mit der Revision des Erbrechts wird der Pflichtteil zum Nachteil der Nachkommen und Eltern geändert:
- Der Pflichtteil der Kinder oder Grosskinder sinkt von drei Vierteln auf die Hälfte des gesetzlichen Erbanspruchs
- Überlebende Ehegatten und eingetragene Partnerinnen oder Partner haben wie bisher Anspruch auf die Hälfte
- Der Pflichtteil der Eltern wird ganz gestrichen
Die Erblassenden können mit dem revidierten Erbrecht in Zukunft freier entscheiden, wem sie wie viel vermachen wollen. Wer sein Erbe mit einem Testament oder einem Erbvertrag individuell regelt, kann über mindestens die Hälfte seines Vermögens frei verfügen. Ein Ehemann kann beispielsweise seiner Ehefrau dank der höheren freien Quote einen grösseren Anteil an seinem Nachlass vererben als bisher.
Was passiert im Scheidungsfall?
Das revidierte Erbrecht regelt auch den Erbanspruch im Scheidungsfall neu. Gemäss geltendem Recht haben Ehegatten so lange gegenseitige Erb- und Pflichtteilsansprüche, bis ein formell rechtskräftiges Scheidungsurteil vorliegt. Unter dem neuen Recht verliert der überlebende Ehegatte seinen Pflichtteilsanspruch, nicht aber sein gesetzliches Erbrecht, bereits dann, wenn beim Tod eines Ehegatten ein Scheidungsverfahren hängig ist. In diesem Fall kann jeder Ehegatte dem anderen Ehegatten durch letztwillige Verfügung den Pflichtteil entziehen.
Testament anpassen oder nicht?
Für bereits existierende sowie für zukünftige letztwillige Verfügungen und Erbverträge gilt, dass das im Zeitpunkt des Todes des Erblassers oder der Erblasserin geltende Recht massgebend ist. Dies gilt unabhängig davon, ob die gesetzliche Erbfolge eintritt oder ob vor Inkrafttreten der Revision eine letztwillige Verfügung erstellt oder ein Erbvertrag abgeschlossen wurde. Bereits errichtete letztwillige Verfügungen und Erbverträge sind daher mit Blick auf das neue Recht zu überprüfen. Ob eine Nachlassregelung angepasst werden muss, hängt von den Formulierungen und von den Absichten ab.
Was passiert ohne Testament?
Die gesetzlichen Erbansprüche und Erbberechtigungen bleiben unverändert. Wenn der Erblasser kein Testament oder keinen Erbvertrag hinterlässt, wird das Erbe nach der Erbrechtsrevision gleich verteilt wie vorher. Ein Beispiel: Wenn der Ehemann stirbt, erhalten die Ehefrau und die Kinder wie bisher je die Hälfte. Mit einer Nachlassregelung hätte der Mann beispielsweise die Kinder auf den Pflichtteil setzen und seine Frau begünstigen können. Dadurch würde sie mehr als die Hälfte erhalten.
Aufgepasst: Auch mit dem neuen Erbrecht haben Konkubinatspartnerinnen oder -partner und Stiefkinder keinen gesetzlichen Anspruch auf einen Anteil am Nachlass. Wer das ändern will, muss ein Testament aufsetzen, das die Pflichtteile aller Erben berücksichtigt.
Soll ich jetzt ein Testament aufsetzen?
Ein Testament oder ein Erbvertrag ist sinnvoll, weil der Nachlass klar geregelt wird und die Familie in ihrer Trauer nicht mit Fragen um den Nachlass zusätzlich belastet wird. Das neue Erbrecht ist der richtige Zeitpunkt, den Nachlass zu regeln. Reden Sie offen mit Ihrer Familie über den Nachlass und lassen Sie sich von Fachleuten unabhängig beraten, zum Beispiel von Ihrer TKB-Beraterin oder Ihrem TKB-Berater. Sie oder er kennt sich mit dem alten und mit dem neuen Erbrecht aus und kann in kniffligen Fällen TKB-Juristinnen oder -Juristen fragen. Wenn Sie Ihren Nachlass in diesem Jahr regeln, sollten Sie unbedingt das neue Erbrecht berücksichtigen, so ersparen Sie sich Anpassungen im nächsten Jahr.