Unser Erbrecht wurde revidiert und ist per 1. Januar 2023 in Kraft getreten. Wir haben lic. iur. Linda Calan, Senior Erbschaftsberaterin, gefragt, welche Auswirkungen das revidierte Erbrecht hat und was es genau mit dem Schenkungsverbot und dem Vorsorge-Guthaben auf dem Sparen 3-Konto auf sich hat.
Frau Calan, warum ist das bestehende Erbrecht revidiert worden?
Das bestehende Erbrecht ist in den letzten hundert Jahren im Wesentlichen unverändert geblieben. Es ist nicht mehr zeitgemäss und wird den gesellschaftlichen Veränderungen nicht mehr gerecht. Mit der Revision soll das Erbrecht an die heutigen Lebensrealitäten und an die alternativen Formen des Zusammenlebens, wie etwa Patchworkfamilien oder Konkubinatspaare, angepasst werden.
Was beinhalten die Änderungen kurz und bündig? Wir gehen anschliessend noch vertieft auf einzelne Themen ein.
- Abschaffung des Pflichtteils der Eltern
- Reduktion des Pflichtteils der Nachkommen auf 50%
- Erhöhung der frei verfügbaren Quote bei der Begünstigung des überlebenden Ehegatten durch Nutzniessung. Das heisst: Nach heutigem Recht kann dem überlebenden Ehegatten die Nutzniessung am ganzen Teil der Erbschaft, welcher den gemeinsamen Kindern zufallen würde, zugewendet werden. Neben dieser Nutzniessung beträgt heute die frei verfügbare Quote einen Viertel des Nachlasses. Neu wird die verfügbare Quote auf die Hälfte des Nachlasses erhöht.
- Verlust des Pflichtteilsanspruchs des überlebenden Ehegatten bei einem hängigen Scheidungsverfahren. Ganz wichtig: Damit ist nicht der gesetzliche Erbteil gemeint.
- Generelles Schenkungsverbot des Erblassenden nach Abschluss eines Erbvertrages
- Verbesserung der Rechtssicherheit durch Klarstellen von verschiedenen Themen, welche im geltenden Recht umstritten sind. Zum Beispiel wird klargestellt, dass Leistungen aus der gebundenen Selbstvorsorge Säule 3a nicht in den Nachlass fallen.
Schenkt das revidierte Erbrecht also mehr Freiheiten?
Das ist richtig. Mit dem neuen Erbrecht wird die Verfügungsfreiheit des Erblassers oder der Erblasserin generell erhöht und damit der Gestaltungsspielraum für die Nachlassplanung grösser.
Thema Pflichtteil: Im Blog-Artikel «Wissen Sie, was das neue Erbrecht für Sie verändert?» schreiben wir, dass der Pflichtteil für Nachkommen auf 50% des gesetzlichen Erbteils reduziert wird. Was bedeutet das nun genau für die restlichen 50%?
Es bedeutet, dass Erblassende über diesen Teil frei verfügen können und damit je nach Belieben einzelne Erben wie die Ehegattin oder ein Enkelkind, aber auch der Konkubinatspartner oder eine wohltätige Organisation, besser begünstigt werden können.
Der Kanton Thurgau zählt 11'000 unverheiratete Paare. Sie leben im Konkubinat. Was bedeutet das revidierte Erbrecht für Sie?
Sie haben im revidierten Erbrecht die gleiche Stellung wie bis anhin. Das heisst: Es besteht auch beim revidierten Erbrecht kein gesetzliches Erbrecht für Sie. Begünstigungen von Konkubinatspartnerinnen und – partnern müssen weiterhin testamentarisch oder vertraglich geregelt werden. Aufgrund der erhöhten Dispositionsfreiheit, das heisst der Anpassung der Pflichtteile, kann die Konkubinatspartnerin oder der Konkubinatspartner besser begünstigt und damit auch finanziell besser abgesichert werden.
In der Schweiz haben sich 2021 etwas mehr als 17'000 Ehepaare scheiden lassen. Was bedeutet das revidierte Erbrecht für Paare, die in einem laufenden Scheidungsverfahren, also noch nicht geschieden sind?
Grundsätzlich fällt mit der rechtskräftigen Scheidung das gesetzliche Erbrecht der Ehegatten und damit auch ihr Pflichtteilsschutz dahin. Sie haben ab dann kein gesetzliches Anrecht mehr, zu erben. Solange ein Scheidungsverfahren hängig ist und noch kein rechtskräftiges Scheidungsurteil vorliegt, gelten die gegenseitigen erbrechtlichen Ansprüche der Ehegatten weiterhin. Nach neuem Recht hat ein Ehegatte unter gewissen Voraussetzungen das Recht, seinen Noch-Ehegatten während eines hängigen Scheidungsverfahrens von der Erbfolge auszuschliessen und ihm auch seinen Pflichtteil zu entziehen. Dies muss aber in einem Erbvertrag oder Testament verfügt werden.
Nun zum Thema «generelles Schenkungsverbot»: Nach revidiertem Erbrecht besteht neu ein Schenkungsverbot bei Erbverträgen. Was bedeutet das?
Heute gilt eine generelle Schenkungsfreiheit. Das heisst: Erblassende dürfen auch nach Abschluss eines Erbvertrages frei über ihr Vermögen verfügen und Schenkungen ausrichten. Schenkungen sind prinzipiell mit dem Erbvertrag vereinbar, ausser dieser sieht das Gegenteil vor oder es handelt sich um offensichtlich mit Schädigungsabsicht vorgenommene Schenkungen. Im revidierten Erbrecht nun gilt umgekehrt ein generelles Schenkungsverbot nach Abschluss eines Erbvertrages. Das heisst: Schenkungen, die in Verletzung des Schenkungsverbots ausgerichtet wurden, können von den Vertragserben beim Tod des Erblassers angefochten werden. Wenn Erblassende weiterhin zu Lebzeiten Schenkungen, die über Gelegenheitsgeschenke hinausgehen, entrichten möchten, müssen diese im Erbvertrag explizit einen entsprechenden Vorbehalt anbringen.
Neu wird klargestellt, dass das Guthaben der gebundenen Selbstvorsorge, also das Vorsorgeguthaben der Säule 3a, nicht in den Nachlass fällt. Können Erblassende frei entscheiden, was damit passiert?
Ja und nein. Bisher war umstritten, ob Bankguthaben der Säule 3a Teil des Nachlasses bilden oder dem Begünstigten ein selbstständiger Anspruch gegenüber der Vorsorgeeinrichtung zukommt. Im revidierten Erbrecht wird klargestellt, dass alle Vorsorgeguthaben der Säule 3a, sowohl bei Versicherungen wie bei Banken, gleich behandelt werden und nicht in den Nachlass fallen. Das bedeutet: Der oder die Begünstigte kann die Auszahlung direkt von der Vorsorgeeinrichtung verlangen. Eine Zustimmung der Erben ist nicht erforderlich. Ansprüche aus der Säule 3a werden jedoch für die Berechnung der Pflichtteile zum Nachlass hinzugerechnet, beim Versicherungssparen zum Rückkaufswert und beim Banksparen zum vollen Wert.
Kommen wir nun zu den abschliessenden Fragen: Was passiert, wenn jemand nach dem 1. Januar 2023 stirbt und kein Testament verfasst hat?
In diesem Fall wird der Nachlass nach der gesetzlichen Erbfolge verteilt. An dieser ändert sich mit dem revidierten Erbrecht nichts.
Was empfehlen Sie Personen, die bereits ein Testament oder einen Erbvertrag erstellt haben oder bereits Schenkungen zu Lebzeiten ausgerichtet haben?
Das neue Erbrecht sieht kein Übergangsrecht vor. Es gilt das Todestagsprinzip. Das bedeutet: Es ist dasjenige Recht entscheidend, welches im Zeitpunkt des Todes der Erblasserin oder des Erblassers gilt. Somit wird auf Erbfälle ab 01.01.2023 das neue, revidierte Recht angewendet.
Da das revidierte Erbrecht ab dem 01.01.2023 auch auf bereits existierende Erbverträge und Testamente angewendet wird, können sich schwierige Auslegungsfragen ergeben. Hat zum Beispiel ein Erblasser seine Nachkommen auf den Pflichtteil gesetzt, ohne die genaue Quote festgelegt zu haben, kann die Frage auftauchen, ob sich gemäss dem erblasserischen Willen die Quote nach altem oder neuem Recht bemisst. Empfehlenswert ist, Testamente und Erbverträge im Hinblick auf solche möglichen Auslegungsproblematiken zu überprüfen und bei Bedarf entsprechend anzupassen.
Auch bezüglich des Schenkungsverbots soll Klarheit geschaffen und allenfalls Erbverträge angepasst werden, so, dass Erblassende zumindest in einem gewissen Umfang das Recht eingeräumt wird, zu Lebzeiten Schenkungen auszurichten.
Wir raten, bestehende Testamente, letztwillige Verfügungen, Erbverträge bezüglich der Pflichtteile und Schenkungsvorbehalte prüfen zu lassen und die folgende Frage zu klären:
Entsprechen die getroffenen Regelungen dem Willen der betroffenen Personen, wenn die Erblasserin oder der Erblasser nach dem 31. Dezember 2022 sterben sollte?