
Die AHV-Reform, genannt AHV 21, wurde am 25. September 2022 von der Schweizer Bevölkerung angenommen. Damit soll die finanzielle Stabilität der 1. Säule vorerst zehn Jahre lang sichergestellt werden. Was heisst das nun genau für die Versicherten? Welche Auswirkungen bringt die Annahme der AHV-Reform mit sich und wie wird sich diese auf die Mehrwertsteuer auswirken? Unsere Expertin Jasmine Kreier, Senior Finanzplanerin, beantwortet die wichtigsten Fragen zum Thema und zeigt auf, was jetzt zu tun ist.
Wissenswertes vorab: Das 3-Säulen-System der Schweiz
Das Schweizer Vorsorgesystem hat zum Ziel, die Bevölkerung im Alter, bei Invalidität und im Todesfall finanziell abzusichern. Es ist seit 1972 in der schweizerischen Bundesverfassung verankert und basiert auf einem 3-Säulen-System:
1. Säule (AHV/IV/EO), staatliche Vorsorge: Existenzsicherung
2. Säule, berufliche Vorsorge: Sicherung des „gewohnten“ Lebensstandards
3. Säule, private Vorsorge: individuelle Ergänzung
Die 1. und 2. Säule sind in der Schweiz obligatorisch und haben zum Ziel, zusammen 60 bis 70 Prozent des letzten Lohnes abzudecken. Eine Faustregel besagt: Um den Lebensstandard nach der Pensionierung halten zu können, sollte die ausbezahlte Altersrente rund 80 bis 90 Prozent des letzten Einkommens ausmachen. Sind die Altersleistungen aus der AHV und der Pensionskasse kleiner, kann eine sogenannte «Vorsorgelücke» entstehen. Sie beschreibt die Differenz zwischen den ausbezahlten Altersleistungen und dem tatsächlich benötigten Geld fürs tägliche Leben.
Mit der AHV-Reform, die voraussichtlich per 1. Januar 2024 in Kraft treten wird, gibt es nun wichtige Änderungen in der 1. Säule, der staatlichen Vorsorge. Doch was genau bedeutet das nun?
Frau Kreier, warum ist es zu einer AHV-Reform gekommen?
Unsere Sozialversicherungsgesetze, vor allem die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) und das Bundesgesetz über die berufliche Vorsorge (BVG), sind etwas in die Jahre gekommen. Die letzte AHV-Revision liegt 25 Jahre zurück, wobei die Grundlagen noch viel älter sind. Damals waren Lebenserwartung, Gesundheit und Lebensumstände ganz anders als heute. Über die Jahre sind die Ausgaben der AHV stärker gestiegen als die Einnahmen. Daraus ergibt sich, dass das finanzielle Gleichgewicht der AHV nicht mehr gegeben ist.
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die 1. Säule?
Die demografische Entwicklung in der Schweiz hat zur Folge, dass die Lebenserwartung steigt und immer mehr Menschen somit ein hohes Alter erreichen. Die AHV muss den Versicherten also länger Renten finanzieren. Gleichzeitig gehen die geburtenstarken Generationen jetzt in Pension, während immer mehr geburtenschwache Generationen nachkommen, die deren Renten finanzieren müssen. Das bringt die finanzielle Stabilität sowie das Umlageverfahren, auf dem die 1. Säule basiert, aus dem Gleichgewicht. Kurz: Es wird mehr ausbezahlt als einbezahlt.
Erklärung: Umlageverfahren
Die AHV basiert auf einem Umlageverfahren. Das heisst, dass die Erwerbstätigen für die Rentnerinnen und Rentner aufkommen. Die einbezahlten Beiträge werden direkt zur Finanzierung der Leistungen benötigt, sprich umgelegt. Der AHV-Ausgleichsfonds kann kurzfristige Einnahmenschwankungen auffangen.
Was ändert sich mit der AHV-Reform?
Neu spricht man nicht mehr von einem Rentenalter, sondern von einem Referenzalter. Dieses bestimmt, ab wann ohne Kürzung und ohne Zuschlag die Altersrente ausbezahlt wird. Das Referenzalter ist neu einheitlich, nämlich für Frauen und für Männer ab 65 Jahren. Allerdings gibt es mehr Möglichkeiten für einen flexiblen Rentenbezug. Es läuft nicht mehr nach dem Motto: „Jetzt muss die ganze Rente bezogen werden." Die Versicherten können ihre Rente also flexibel im Alter zwischen 63 und 70 Jahren beziehen. Frauen in der Übergangsgeneration bereits ab 62 Jahren. Ebenfalls gibt es neu die Option, die AHV-Rente auch als Teilrenten vorzubeziehen oder aufzuschieben. Wichtig zu wissen: Bei einem Bezug einer Teilrente unter der neuen AHV-Reform müssen mindestens 20% der Rente bezogen werden, während der maximale Prozentanteil 80 beträgt.
Erklärung: Übergangsgeneration
Die Übergangsgeneration bezeichnet Frauen mit den Jahrgängen 1961 - 1969. Wenn die AHV-Reform am 1. Januar 2024 in Kraft tritt, erhöht sich ab 1.1.2025 das Referenzalter der Frauen schrittweise bis zum Alter 65. In der Folge gilt ab 2028 für Frauen und Männer das einheitliche Referenzalter von 65 Jahren. Die Frauen haben unterschiedliche Möglichkeiten bei der Pension. Einerseits können sie bis 65 Jahre arbeiten und einen lebenslänglichen Rentenzuschlag erhalten. Dieser ist abhängig von ihrem durchschnittlichen Jahreseinkommen. Andererseits können sie sich mit 64 Jahren pensionieren lassen und profitieren von einem geringeren Kürzungssatz. Das heisst: Bisher wurde zum Beispiel bei einem AHV-Renten-Vorbezug um ein Jahr die Rente lebenslänglich um 6,8% gekürzt. Die Übergangsgeneration (1961 - 1969) kann nun dank der neuen AHV-Reform die Rente ein Jahr vorbeziehen und hat je nach Jahreseinkommen eine Kürzung von 0 bis 3,5%.
Gibt es finanzielle Anreize, über das Referenzalter hinaus erwerbstätig zu bleiben?
Arbeitnehmende, die das Referenzalter erreicht haben und trotzdem erwerbstätig sind, profitieren von einem monatlichen Freibetrag von 1'400 CHF respektive von 16'800 CHF im Jahr. Nur der Teil des Erwerbseinkommens, der diesen Freibetrag übersteigt, ist beitragspflichtig. Sollte der oder die Arbeitnehmende für mehrere Unternehmen tätig sein, gilt hier der Freibetrag für jedes Arbeitsverhältnis. Auf den Freibetrag kann verzichtet werden. Wer über das Referenzalter hinaus arbeitet, hat die Möglichkeit so, Beitragslücken zu schliessen oder die eigene Altersrente bis zur Maximalrente aufzubessern.
Und wie sieht es mit der Mehrwertsteuer aus? Diese war ja auch Teil der Abstimmungsvorlage AHV 21. Was ändert sich da?
Ein weiterer wichtiger Punkt der neuen AHV-Reform ist die Anhebung der Mehrwertsteuer. Der Normalsatz wird von 7,7% auf 8,1% angehoben, der reduzierte Satz für Gegenstände des täglichen Bedarfs und der Sondersatz für Beherbergungsleistungen um je 0,1 Prozentpunkte. Mit dem Anstieg der Mehrwertsteuer wird die gesamte Konsumgesellschaft zur Kasse gebeten.
Welche Ziele will die AHV 21 damit erreichen?
Primär sollen damit die Finanzierung der AHV-Renten und das finanzielle Gleichgewicht der AHV in den nächsten zehn Jahren gesichert werden. Zusätzlich kommt es dem aktuellen Bedürfnis der Versicherten nach, mehr Flexibilität beim Rentenbezug zu haben.
Welche Probleme löst die AHV-Reform? Welche nicht?
Die finanzielle Sicherheit und Stabilität der AHV sind für die nächsten 10 Jahre mit der AHV-Reform gesichert. Damit ist das Problem per se aber noch nicht gelöst. Die Politik ist weiterhin gefordert, Lösungen zu finden, mit denen die Finanzierung und die Stabilität auch langfristig geregelt werden können. Die AHV-Reform leistet einen wichtigen Beitrag dazu.
Für wen sind die Änderungen der angenommenen AHV-Reform relevant?
Grundsätzlich betrifft es uns alle. Das Referenzalter für Männer und Frauen liegt neu bei 65 Jahren. Zudem wird der Altersrücktritt, also das ganze oder etappenweise Austreten aus dem Erwerbsleben, flexibler gestaltet.
Was heisst das für uns alle?
Selbstvorsorge respektive Eigenverantwortung wird immer wichtiger – auch in Anbetracht von künftigen Reformdiskussionen. Somit ist es für alle empfehlenswert, sich früh genug mit der eigenen Vorsorgesituation auseinanderzusetzen. Ausserdem soll man so bald wie möglich mit dem Sparprozess beginnen. Einzahlungen in die Säule 3a bieten sich an. Auch freies Sparen, zum Beispiel mit Wertschriften, ist sinnvoll. Bereits kleine regelmässige Einzahlungen können auf Dauer viel ausmachen.
