Wirtschaftlich stabil, medizinisch gefordert

Oktober 2025 | Das Thurgauer Gesundheitswesen zeigt wirtschaftlich solide Vitalzeichen. Doch hinter dem guten Befund steckt ein System, das personell und organisatorisch an Grenzen stösst.

Wirtschaftlich läuft es rund: Gemäss der TKB-Firmenkundenumfrage melden fast 70 Prozent der Betriebe im Gesundheits- und Sozialwesen eine gute Geschäftslage. Der Sektor schafft so viele Arbeitsplätze wie kein anderer im Kanton Thurgau: 13 Prozent aller Arbeitsplätze hängen an Spitälern, Praxen oder Pflegeheimen. Zwischen 2018 und 2023 ist die Zahl der Beschäftigten im Thurgauer Gesundheitswesen um 1195 Vollzeitäquivalente gestiegen, stärker als in jedem anderen Wirtschaftszweig des Kantons.

«Wir haben in der Schweiz ein sehr gutes Gesundheitswesen mit schnellem Zugang zu medizinischen Einrichtungen», sagt Marcel Frei, Geschäftsführer des Ärztezentrums Schlossberg. Doch sein Alltag zeigt auch die Kehrseite: eine Branche, die floriert – und ein System, das an Grenzen stösst.

Dienstleistungsunternehmen verzeichnen gutes Geschäftsjahr
Beurteilung des vergangenen Geschäftsjahrs, nach Subbranchen, 2024

Quelle: TKB-Firmenkundenumfrage

Demografie treibt Nachfrage

Die Gründe dafür sind vielfältig. Nachfrageseitig spürt das Gesundheitswesen die Alterung. «Je älter die Bevölkerung wird, desto mehr ärztliche Leistungen braucht sie», beobachtet Frei. Laut dem Bundesamt für Statistik soll sich die Zahl der über 80-Jährigen in der Schweiz bis 2050 von heute rund 0,46 Millionen auf 1,11 Millionen mehr als verdoppeln. Der steile Anstieg bringt mehr Pflegebedarf – und mehr chronische Erkrankungen. Bereits heute ist die Lage angespannt: «Die Grundversorgung ist nicht mehr überall sichergestellt», sagt Frei.

Auch Lorenzo Stoll, CEO des Gesundheitslogistikers Avosano in Romanshorn, spürt diese Entwicklung. Sein Unternehmen beliefert Apotheken und Drogerien täglich mit über 43’000 Medikamenten und Gesundheitsprodukten.

Die Schweiz wird älter

Quelle: BFS, 2025

Versorgung sichern

«Wir sind zwar keine Gesundheitsdienstleister im engeren Sinn, aber wir begleiten die Entwicklung im Gesundheitswesen mit unseren Services», sagt Lorenzo Stoll. Avosano wächst seit Jahren; die Nachfrage nach medizinischen Produkten steigt primär mit dem Umfang der erbrachten Gesundheitsleistungen.

«Wir sehen aber auch, dass Technologien aus dem medizinischen Bereich in den Alltag wandern und neue Zielgruppen entstehen», sagt Stoll. So nutzten heute beispielsweise Hobbysportler Glukosesensoren, die ursprünglich für Diabetiker entwickelt worden seien, um ihre Leistungsdaten in Echtzeit auszuwerten.

«Die Grundversorgung ist nicht mehr überall sichergestellt.»
Marcel Frei
Geschäftsführer Ärztezentrum Schlossberg in Frauenfeld

Technologie als Nachfrage- und Kostentreiber? Marcel Frei vom Ärztehaus pflichtet bei: «Heute wollen Patienten häufig ein MRI, obwohl medizinisch vielleicht ein Röntgenbild reichen würde.» Die Möglichkeiten seien da und die Menschen wollten sie nutzen. Dieser Wunsch nach umfassender Diagnostik treibt die Nachfrage – und somit letztlich auch die Kosten.

Rekrutierung bleibt schwierig

Der zweite Grund für übervolle Wartezimmer in Praxen wie in jenem des Ärztezentrums Schlossberg: Ärztemangel. Acht von zehn Thurgauer Betrieben im Gesundheits- und Sozialwesen berichten von Fachkräftemangel. Auch da bekommt die Branche die Folgen der Alterung zu spüren: Jeder vierte Arzt in der Schweiz ist über 60 Jahre alt.

Die drei grössten Herausforderungen im Gesundheits- und Sozialwesen
Anteil Nennungen in % (maximal 3 Nennungen aus einer Auswahl von 13 potenziellen Herausforderungen möglich), Kanton Thurgau, 2024

Quelle: TKB-Firmenkundenumfrage

«Wir müssten heute eigentlich für jede Ärztin oder jeden Arzt, der in Pension geht, zwei neue ausbilden», sagt Frei. Viele Junge arbeiten nicht mehr Vollzeit. Der Thurgau bildet zudem keine eigenen Ärztinnen und Ärzte aus – wer in Zürich, Bern oder Freiburg studiere, kehre oft nicht mehr zurück, beobachtet der Geschäftsführer des Ärztezentrums Schlossberg.

«Auch E-Commerce Heimlieferungen von rezeptpflichtigen Medikamenten werden in Zusammenarbeit mit den Apotheken kommen – aber sie sind rechtlich und technisch viel komplexer als Uber Eats.»
Lorenzo Stoll
CEO Avosano

Bringt die Digitalisierung Entlastung?

Während Praxen und Spitäler unter Druck stehen, hält die Logistik das System am Laufen. Lorenzo Stoll sieht in der Digitalisierung Effizienzpotenzial: Elektronische Rezepte könnten beispielsweise den Administrationsaufwand verringern und sicherstellen, dass verschreibungspflichtige Medikamente bereits bereitstehen, bevor Patientinnen und Patienten die Apotheke betreten. Weil Avosano am Puls der Digitalisierung sein wolle, entwickle sich das Unternehmen vom Verteiler hin zum Dienstleister mit digitalen Schnittstellen. «Auch E-Commerce Heimlieferungen von rezeptpflichtigen Medikamenten werden in Zusammenarbeit mit den Apotheken kommen – aber sie sind rechtlich und technisch viel komplexer als Uber Eats», sagt Stoll. 

Wie erleben Sie persönlich den Zugang zur medizinischen Grundversorgung?

Ich bekomme rasch einen Termin, wenn ich einen brauche.
Ich muss oft länger warten, als mir lieb ist.
Ich finde kaum eine Hausärztin/einen Hausarzt, der neue Patient(inn)en aufnimmt.
Ich gehe möglichst selten zum Arzt und versuche, vieles selbst zu lösen.

Aus Sicht der Grundversorgung betont Marcel Frei jedoch: Digitalisierung wirke nur, wenn sie praxistauglich sei. Das elektronische Patientendossier sei derzeit ein «PDF-Friedhof». Richtig umgesetzt gäbe es Ärztinnen und Ärzten allerdings wieder mehr Zeit für die Behandlung.

Am Ende bleibt ein paradoxes Bild: Der Branche geht es auf den ersten Blick zwar gut, aber nur weil sie so stark beansprucht wird. Eine Frage der Zeit, bis es zum Ermüdungsbruch kommt? «Langfristig geht es allen besser, wenn wir weniger behandeln müssen, weil die Menschen länger gesund bleiben», sagt Frei. Mehr Eigenverantwortung, genügend Bewegung und etwas Gelassenheit würden nicht nur Ärztinnen, Ärzte und Pflegepersonal entlasten, sondern auch den Menschen selbst zugutekommen. Denn wer seinen Blutdruck im Griff behält, stabilisiert am Ende auch den Puls des gesamten Gesundheitswesens.

Dieser Artikel wurde durch die IHK St.Gallen-Appenzell in Zusammenarbeit mit der Thurgauer Kantonalbank erstellt. Die Onlinepublikation wird auf der TKB-Webseite veröffentlicht und kann als Newsletter abonniert werden: Newsletter Wirtschaft Thurgau

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